In Hadamar brachten Nazi-Ärzte und Pfleger 15.000 Menschen um. Nun fragen immer mehr Angehörige nach dem Schicksal der Opfer. Warum erst jetzt? Die Antwort offenbart bittere Wahrheiten.
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Sprachlosigkeit herrschte bis in unsere Zeit hinein bei vielen Familien, wenn nicht zuhause, dann doch nach außen. Manchmal wird es auch Ahnungslosigkeit gewesen sein. Überlebende der "Euthanasie" gab es kaum, in Hadamar waren es wohl nicht einmal 250. Die Täter verschleierten ihre Taten, logen in Briefen an Familien, fälschten Akten und auch die Sterbeurkunden.
Und wer später Fragen stellte, musste nach Antworten lange suchen. Patientenakten verbrannten in den Trümmern Berlins oder verstaubten in einem Keller der Klinik, die nach dem Krieg als Psychiatrie des Landeswohlfahrtsverbands weitergeführt wurde. Erst 1983 nahm die Gedenkstätte die Arbeit auf, mehr als zwei Jahrzehnte später, 2006, war eine Datenbank mit Informationen über fast alle Ermordeten fertig.
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Das allein erklärt die Zurückhaltung vieler Angehöriger nicht. Die späte, von Widerständen begleitete historische Aufarbeitung, ein in mehr als einem Fall empörend gnädiger Umgang mit Tätern in der Nachkriegszeit, die Verweigerung von staatlichen Entschädigungszahlungen - Familien führte die Bundesrepublik lange vor Augen: Ihre Toten waren Opfer dritter Klasse. Manchmal sogar zuhause "totgeschwiegen", wie es Gisela Puschmann erfahren hat. In jedem Fall gesellschaftspolitisch "nicht vorzeigbar", wie es Andreas Hechler nennt, dessen Urgroßmutter Emilie Rau in Hadamar getötet wurde.
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Wie das Unheil der "Euthanasie" nach dem Krieg generationsübergreifend fortwirkte, führt Hechler in einer bitteren Gesellschafts- und Familienstudie vor. Titel: "Diagnosen von Gewicht. Innerfamiliäre Folgen der Ermordung meiner als 'lebensunwert' diagnistizierten Urgroßmutter". Sie zeigt nicht nur, wie der Rassenhygiene-Wahn der Nazis Menschen zu Ballast für Volkswirtschaft und Genpool einer vermeintlichen Herrenrasse erklärte. Das dahinter stehende Menschenbild ("gesund, normal, nützlich") vergiftete bis in die Gegenwart auch das Leben von Nachkommen. Sie sahen sich dem Verdacht ausgesetzt, vielleicht selbst "irre" zu sein. Deshalb mussten sie sich vor "sozialer Ächtung und Diskriminierung" schützen, wie Hechler sagt. |