Abkehr von der schlechteren Mitte
Von Franz Walter
Heute ist die SPD nicht mehr dort am stärksten, wo Wohnverhältnisse bescheiden und Bildungsniveau gering sind. Heute schmeckt die Partei nicht mehr nach Kohlenstaub - sondern nach Büro, Klarsichtfolie, PC. Konsequent also, dass Kurt Beck die bessere Mitte entdeckt.
Die öffentlich-mediale Resonanz darauf fiel bislang in der bundesdeutschen Mittelschichtgesellschaft keineswegs schlecht aus. Schließlich leuchtet es ein, dass man für eine schwierige Politik der wissensgesellschaftlichen Reformen in erster Linie Leistungsträger, Eliten und Bildsame braucht, während der Nutzen schwer vermittelbarer Langzeitarbeitslose dafür denkbar gering ist. Und natürlich gewinnt in einem Vielparteiensystem diejenige Partei das Spiel, die im Zentrum steht, also sozial, kulturell und politisch "Mitte" bildet. In einem solchen System kann eine Wählerpotential von 25 bis 30 Prozent durchaus reichen, um die koalitionsbewegende Kraft schlechthin zu sein ? wenn man eben die Scharnierstelle im Parlamentarismus einnimmt. Das ist der rationale Hintergedanke der sozialdemokratischen Mitte-Propagandisten.
Und doch: Alle großen Wählerbewegungen und auch Machtwechsel im Bund und in den Ländern der letzten Jahren hatten in erster Linie mit der ganz ungewöhnlichen Volatilität der unteren Schichten dieser Republik zu tun. Das wird merkwürdigerweise weithin übersehen. Schröder wäre ohne sie nicht Kanzler geworden, Wulff und Koch nicht Ministerpräsidenten. Die parteipolitische Beweglichkeit unten ist erheblich größer als in der Mitte und oben. Die Sozialdemokraten haben sich bemerkenswert rüde und unsentimental von den unteren Lebenslagen der Gesellschaft abgetrennt. Daher können sich nun andere politische Kräfte dort kommod breit machen. Und in der Koalitionsfrage werden die Sozialdemokraten dann doch wieder mit den Schmuddelkindern zu tun bekommen, die sie eigentlich so gern hinter sich gelassen hätten.
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