© ZEIT online 8.6.2006 - 15:49 Uhr
Mehr Verstand, bitte!
SPD-Chef Beck fordert von Sozialleistungsempfängern „mehr Anstand“ – und belegt damit die Hilflosigkeit der Politik. Gegen die Löcher in den Sozialkassen werden solch populistische Aufrufe kaum helfen, kommentiert Ludwig Greven
© Katharina Langer für ZEIT online
Es gab mal eine Zeit, lang ist’s her, in der ein führender Sozialdemokrat gegen „Sekundärtugenden“ zu Felde zog. Oskar Lafontaine hieß der, er nahm es mit den Tugenden selber nicht so genau. Sein Nach-Nachfolger als Parteichef, einer der letzten führenden Vertreter des klassischen sozialdemokratischen Milieus, entdeckt nun die alten sittlichen Werte wieder - als vermeintliche Waffe gegen Sozialmissbrauch und die klaffenden Haushaltslöcher, welche die Hartz-IV-Reform der vormaligen rot-grünen Regierung reißt. „Man muss nicht alles rausholen, was geht“, predigt der gute Mann aus Mainz. Und dürfte damit an dem Stammtischen und in den SPD-Ortsvereinen viel Beifall finden.
Denn wer würde dem widersprechen, dass die weit verbreitete Mitnahme-Mentalität und das Raffke-Denken bis in die höchsten Kreise hinein geeignet sind, die moralischen und materiellen Grundlagen des Gemeinwesens zu untergraben? Wer kennt nicht Beispiele dafür aus seinem eigenen Umfeld? Und wer würde erst recht nicht zustimmen, wenn der gelernte Elektroniker Beck auf das böse Vorbild von Unternehmen verweist, die trotz bester Gewinne keine Steuern mehr zahlen, und damit anderen am anderen Ende der Gesellschaft den Vorwand liefern, ebenfalls ein „paar Groschen“ vom Staat abzugreifen?
Doch was besagen solche Allgemeinplätze? Ist der seit langem beklagte allgemeine Sittenverfall für die Fehlentwicklungen in den Sozialsystemen und im Haushalt verantwortlich? Oder ist es nicht eher eine von Becks Vor-Vorgänger Gerhard Schröder zu verantwortenden Politik, die es durch die seinerzeit gepriesene rot-grüne Steuerreform den Konzernen erst richtig möglich gemacht hat, sich zu Lasten des Staates zu bereichern, und die zum anderen – gemeinsam mit der Union – das Hartz-IV-Schlamassel verursacht hat?
Mit Sicherheit gibt es eine nicht unbeträchtliche Zahl von Un- oder Wenigberechtigten, die sich Arbeitslosengeld II erschleichen. Etwa die inzwischen berüchtigten Kinder aus gut gestellten Familien, die bei ihren Eltern nur deshalb ausziehen, um eine eigene „Bedarfsgemeinschaft“ anmelden zu können. Oder die Paare, die sich formell trennen, um dann doppelt zu kassieren. Aber die Möglichkeiten und damit Anreize dazu hat die Politik geschaffen – ob aus Ahnungslosigkeit, wie Beck jetzt beklagt, oder aus besten Absichten, die missbraucht werden, spielt keine Rolle.
Nun sind Großreformen an komplexen Sozialsystemen sicher nicht leicht zu steuern. Fehler können vorkommen, einige werden gerade durch das „Fortentwicklungsgesetz“ repariert. Aber die Kritik an dem angeblichen oder tatsächlichen Sozialmissbrauch lenkt von dem eigentlichen Problem ab. Denn Schuld daran, dass die Versorgung des Millionenheeres der Langzeitarbeitslosen so viele Milliarden kostet, haben ja nicht diese. Die allermeisten von ihnen wären nur allzu bereit, jede vertretbare Arbeit anzunehmen, wenn sie denn zu finden wäre. Dies belegt der gewaltige Run auf die Ein-Euro-Jobs, die ja nun wahrlich kein fürstliches Auskommen erlauben. Diejenigen, die - oft nach Jahren des sozialen Absinkens – nicht mehr bereit oder in der Lage sind, zu arbeiten und für ihr eigenes Leben zu sorgen, bilden eindeutig die Minderheit.
Deshalb ist mehr als billig, wenn Politiker immer wieder denen mit Kürzen der Hilfen drohen, die sich einer Beschäftigung (welcher?) verweigern, oder wenn sie – in der sozialdemokratisch-milderen Variante – an ihr moralisches Bewusstsein appellieren. Ändern wird es so oder so nichts.
Denn der zweite Teil des Versprechens, der mit der Hartz-IV-Großoperation verbunden war, ist bis heute unerfüllt: Dass zu der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe ein verstärktes Bemühen um Vermittlung in Arbeit und vor allem eine aktive Politik zur Schaffung von Jobs tritt.
Stattdessen hat sich die alte und zum Teil auch die neue Regierung darauf ausgeruht, mit der letztlich bloß organisatorischen Änderung wäre schon ein entscheidender Schritt getan. Und weil der Protest gegen die schlecht vorbereitete und kommunizierte Hartz-IV-Reform schon so groß war, wich die Politik in immer neue Zusatzregeln und Übergangsgelder aus, bis die Sache gar nicht mehr zu beherrschen war.
Wo aber Menschen auf Dauer ohne Perspektive auf eine aktive Teilnahme an der Arbeitsgesellschaft bleiben, ist es ihnen kaum zu verdenken, dass sie sich in dem sozialen Ersatzsystem so gut einzurichten versuchen, wie es nur geht. Wer dagegen Arbeitslosigkeit nur für kurze Zeit fürchten muss, ist weit eher bereit und in der Lage, materiell zurück zu stecken. Kurt Beck, der sich vorgenommen hat, der SPD verloren gegangenes Vertrauen zurück zu gewinnen, sollte sich daher hüten, die Falschen zu prügeln. So kurz ist das Gedächtnis der Wähler nicht, als dass sie nicht wüssten, wer ihnen Hartz IV eingebrockt hat.
http://www.zeit.de/online/2006/24/HartzIV-Beck?page=1
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