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RE: Hartz IV ist offener Strafvollzug |
Beitrag Kennung: 521495
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»Sanktionen beschädigen die Menschenwürde«
Rekord bei Strafen gegen Hartz-IV-Bezieher. Sie sind laut Karlsruhe verfassungswidrig. Gespräch mit Cornelia Möhring
Jana Frielinghaus
Cornelia Möhring ist frauenpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion der Partei Die Linke
Vergangene Woche hat die Bundesagentur für Arbeit gemeldet, im ersten Halbjahr 2011 habe es so viele Sanktionen gegen Hartz-IV-Bezieher gegeben wie noch nie. Jeden Monat wurden in diesem Zeitraum durchschnittlich 147000 Personen mit Regelsatzkürzungen von durchschnittlich 89 Euro für vermeintliches Fehlverhalten bestraft. Ist diese Sanktionspraxis überhaupt rechtens?
Sie ist nicht rechtens, und sie beschädigt die Würde des Menschen. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat es mit seinem Urteil vom Februar 2010 bestätigt: Ein menschenwürdiges Existenzminimum ist ein Grundrecht. Und eine gesetzliche Regelung und Praxis, die zu einer Unterschreitung dieses Existenzminimums führt, ist verfassungswidrig. Ein weiterer Rechtsverstoß liegt darin, daß jugendliche Leistungsberechtigte – also unter 25jährige – noch deutlich drastischer sanktioniert werden. Selbst Schwangere werden dieser Praxis ausgesetzt.
Ganz übel ist, daß der Eindruck erweckt wird, Hartz-IV-Bezieher würden massenhaft Arbeitsangebote ablehnen. Das ist Blödsinn, denn ein großer Teil der Sanktionen wird aus ganz anderen Gründen verhängt und nicht selten einfach, weil die Berater Zielvorgaben erfüllen müssen oder überfordert sind.
Die Linksfraktion hatte im Frühjahr im Bundestag beantragt, sämtliche Sanktionen abzuschaffen. Wie haben die anderen Parteien darauf reagiert?
Die anderen sind und bleiben Hartz-IV-Parteien. Die Grünen wollen die Sanktionen immerhin vorübergehend aussetzen und haben sich enthalten. Die SPD hat unsere Forderung gemeinsam mit den Regierungsfraktionen abgelehnt.
Anfang Juni hat es eine Expertenanhörung zum Linke-Antrag im Sozialausschuß des Bundestages gegeben. Was war das Ergebnis?
Die Experten waren sich einig, daß die Sanktionen aufhören müssen. Wer immer noch glaubt, jeder Mensch werde einen Job bekommen, wenn er nur arbeiten wolle, oder daß Druck positive Effekte habe, ignoriert die Arbeitsmarktentwicklung. Unsere Fraktion wurde in ihren Forderungen also bestätigt.
Welche Gesetze wären nötig, um die herrschende Praxis zu beenden?
Genau das, was die Linksfraktion in ihrem Antrag gefordert hat. Ein Gesetz, in dem eine sanktionsfreie Mindestsicherung festgelegt wird. Damit würden alle Sanktionen nach dem Sozialgesetzbuch II und alle Leistungseinschränkungen nach SGB XII abgeschafft. Bis solch ein Gesetz in Kraft treten kann, müßten alle Widersprüche und Anfechtungsklagen gegen Sanktionen aufschiebende Wirkung haben.
Was sagen Sie Leuten, die finden, es müsse doch Druckmittel gegenüber Personen geben, die jede Arbeit verweigern?
Ich sage ihnen erstens, daß es gar nicht um die verschwindend kleine Gruppe derjenigen geht, die Arbeit verweigern. Die Sanktionen werden vorwiegend verhängt, weil Betroffene gegen Auflagen verstoßen, die sie zum Teil nicht mal kennen. Ich wohne in einer ländlichen Gegend und höre oft, daß es zum Beispiel Probleme gibt, kurzfristig zum Beratungsgespräch zu fahren. Der öffentliche Nahverkehr ist auf dem Land ein Riesenproblem. Und ich sage den Leuten auch, daß hinter den Sanktionen häufig Zielvorgaben der Jobcenter-Mitarbeiterinnen stecken.
Dagegen müßte es Druckmittel geben! Oder gegen Vorgänge wie den gerade bekanntgewordenen, daß das Jobcenter im Landkreis Unna Saisonarbeitsplätze beim Internethändler Amazon vermittelt. Auf denen müssen die Betroffenen erst mal wochenlang ohne Lohn als »Praktikanten« arbeiten, und riskieren bei Verweigerung solcher Sklavendienste Leistungskürzung.
Können sich Betroffene wehren und wenn ja, wie?
Oft verlieren diejenigen, denen es am schlechtesten geht, den Mut, weil ihnen von allen Seiten vermittelt wird, sie seien selbst schuld an ihrer Situation. Aber Gegenwehr lohnt sich: 2010 waren 73 Prozent der Sanktionen rechtswidrig. Und in den Fällen, die vor Gericht landeten, erhielten 55 Prozent der Kläger recht.
Betroffene sollten sich beraten lassen, nicht allein zum Gespräch ins Jobcenter gehen. Es hilft, sich mit anderen zusammenschließen. Auch parteipolitisches Engagement ist sinnvoll. Die Linke ist die einzige Partei, die konsequent auf Seite der Betroffenen steht.
(Quelle: http://www.jungewelt.de/2011/11-08/047.php?print=1)
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