31.01.2012
Leben im Totenhaus
Weit über eine Million Menschen schickte das zaristische Russland nach Sibirien. Für viele war die Verbannung ein qualvoller Weg in den Tod, für einige eine Reise in ein erträgliches Exil.
Das erste Opfer der Verbannung im zaristischen Russland soll kein Mensch gewesen sein, sondern die Glocke eines Klosters.
Am 15. Mai 1591 kam der jüngste Sohn Iwans IV., genannt "der Schreckliche", in der zentralrussischen Stadt Uglitsch ums Leben.
Viele Menschen glaubten, der damalige Reichsverweser und spätere Zar Boris Godunow habe den achtjährigen Jungen kaltblütig ermorden lassen, um die eigenen Herrschaftsansprüche abzusichern.
Einige aufmüpfige Einwohner läuteten nach dem Tod des Kindes erzürnt und wagemutig die Glocke des örtlichen Klosters, um so einen Aufstand anzuzetteln. Die Rebellion wurde allerdings ruck, zuck niedergeschlagen.
Zur Strafe hieben zarentreue Untertanen der Glocke die Henkel ab, als wären es Ohren, und rissen ihr den Klöppel heraus, als wäre er eine Zunge. Anschließend wurde die Glocke nach Tobolsk in Sibirien verbannt. Auch die Meuterer, die das Metall zum Tönen gebracht hatten, mussten zwangsweise gen Osten ziehen.
Von Beginn des 17. Jahrhunderts an lernten die russischen Zaren die Verbannung als nützliches Herrschaftsinstrument schätzen: Die Monarchen konnten so missliebige Zeitgenossen loswerden und, genauso wichtig, die gewaltige Weite Sibiriens besiedeln.
In die Ferne gejagt wurden Räuber und Diebe, Kriegsgefangene, meuternde Soldaten, Kinderschänder, widerspenstige Bauern, Menschen mit dem falschen Glauben oder einer störenden politischen Einstellung.
Später kamen, mehr oder weniger wahllos, Meineidige, Verleumder und zahllose Männer und Frauen hinzu, die gegen irgendein Verbot verstoßen hatten, war es auch nur das des Tabakrauchens. Auch wer keine Steuern zahlte oder als Leibeigener ohne Erlaubnis einen Baum fällte, musste mit Verbannung rechnen.
Doch nicht nur echte oder angebliche Bösewichte wurden deportiert, die Zaren schoben auch zahlreiche Menschen nationaler Minderheiten wie Tataren, Juden oder Kaukasier nach Sibirien ab.
Russland stand mit dieser Strafpraxis nicht allein: Großbritannien verschiffte missliebige Untertanen nach Australien, Frankreich schickte sie in sein Übersee-Departement Guayana.
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ff
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