Praxisgebühr entfällt ab 2013 – Patientenbehandlung wieder im Mittelpunkt

SirBernd
Ab 01.01.2013 soll die Praxisgebühr von 10 Euro pro Quartal entfallen. Darauf einigte sich die Regierungskoalition in ihrer letzten Sitzung. Die Entscheidung erntet viel Zustimmung.

Finanzierung gesichert

Die gesetzlichen Krankenkassen erwirtschaften steigende Gewinne. Ihre Rücklagen belaufen sich bereits auf circa 20 Milliarden Euro. Erste Kassen, darunter als größte die Techniker Krankenkasse, haben für 2013 angekündigt, einen Teil ihrer Einnahmen wieder direkt an ihre Versicherten auszuzahlen.

Die erhoffte Lenkungswirkung der Praxisgebühr, nämlich dass die Zahl der Arztbesuche insgesamt zurückgehen würde, ist nicht eingetreten. Bestrebungen, eine geringere Gebühr statt einmal im Quartal bei jedem Arztbesuch zu erheben, haben sich nicht durchgesetzt.

Die Abschaffung der Praxisgebühr wird von einer breiten Mehrheit befürwortet. Der Bürger wird finanziell entlastet, die Arztpraxen sparen Verwaltungsaufwand können sich wieder mehr auf die Behandlung der Patienten konzentrieren.
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gastli
Pressesplitter zu dem Echtzeitkabarett von der Nacht zum Sonntag:

Zitat:
Acht Stunden saßen die drei Konfliktparteien letzte Nacht im Kanzleramt zusammen, und herausgekommen ist: nicht viel. Praxisgebühr gegen Betreuungsgeld, so lautet der kleinste gemeinsame Nenner von Schwarz und Gelb nach mehr als drei Jahren gemeinsamer Regierung. Wobei kaum zu erkennen ist, wo hier noch regiert wird. Über beide Themen haben Union und FDP schließlich schon seit Wochen erbittert gestritten, im Grunde war allen Teilnehmern klar, dass es auf diesen Kuhhandel hinauslaufen wird. […] Aber die größte Lachnummer ist und bleibt das Betreuungsgeld - eine weiß-blaue Kröte, für die die CSU notfalls auch die ganze Koalition über die Klippe springen lässt, eine bayerische Machtfrage. Um die Sache geht es längst nicht mehr.
[Eva Corell BR 05.11.12]

Bundeskanzlerin Merkel und ihre Koalition stellen politisches Kalkül über das Gemeinwohl. Nur um einen Gesichtsverlust von Horst Seehofer vor den Landtagswahlen in Bayern zu vermeiden und dem siechenden FDP-Vorsitzenden Rösler das Überleben für wenige weitere Monate zu sichern, schließen sie beim Betreuungsgeld einen faulen Kompromiss. Der Burgfrieden ist teuer erkauft. Merkel lässt den Preis dafür Kinder und Eltern zahlen. Denn denen drohen jetzt schlechtere Bildung und Integration sowie weniger und schlechtere Kitaplätze.
Frau Merkel und ihre Koalition handeln damit gegen den überwältigenden und nahezu einstimmigen Widerstand aus allen gesellschaftlichen Bereichen: gegen Gewerkschaften und Arbeitgeber, gegen Wohlfahrtsverbände und die evangelische Kirche, gegen die renommierte Wissenschaft – und auch gegen die eigene Anhängerschaft, die selbst mehrheitlich ein Betreuungsgeld ablehnt. Selten war eine Regierung so ignorant, so uneinsichtig und so verantwortungslos.
[Dagmar Ziegler, SPD-Bundestagsfraktion PM 1194 vom 05.11.12]

Ursula von der Leyen (CDU) spricht von der "Zuschussrente mit neuem Namen". Die Arbeitsministerin tut alles, um nicht als Verliererin der Gipfelnacht dazustehen. Schließlich war sie es, die den Kampf gegen drohende Altersarmut mit lautem Alarm auf die Tagesordnung gehievt hatte. Nun sollen noch in dieser Wahlperiode die Weichen gestellt werden, damit Geringverdiener später nicht aufs Sozialamt müssen. Doch für die Mini-Renten soll es wohl auch nur eine Mini-Aufstockung geben, nur zehn bis 15 Euro über der Grundsicherung. Ein Witz, findet nicht nur die Opposition. Der DGB spricht von "blankem Zynismus", der Sozialverband VdK beklagt eine "Rentenpolitik auf Sparflamme".
[Annett Meiritz, Severin Weiland und Philipp Wittrock, 05.11.12]

Noch nie fielen Anspruch und Wirklichkeit eines Regierungsbündnisses so weit auseinander: Nach drei Jahren an der Macht ist die schwarz-gelbe Koalition in ihren politischen Spielräumen eingeschränkt, in ihren Prozeduren ineffektiv und im Erscheinungsbild ermüdend. […]
Die jüngste Sitzung des Koalitionsausschusses war sinnbildlich für diese Not: Erst Monate der Untätigkeit, dann Wochen der Streiterei und zuletzt siebeneinhalb Stunden mühsames Gezerre für ein Minimum an Beschlüssen. Verbindlichkeit: ungewiss.
Einer Koalition mit dieser Arbeitsweise soll man nun abnehmen, dass ihr bei dem wirklich großen Problem der Rente noch etwas gelingt? […]
Diese Koalition ist in ihren politischen Spielräumen eingeschränkt, sie ist in ihren Prozeduren ineffektiv, und im Erscheinungsbild ermüdend.
[Nico Fried, SZ, 05.11.12]

Nichts macht die wahre Bedeutung des Koalitionsgipfels klarer als der Umstand, dass Wolfgang Schäuble nicht dabei war. […] Von der Wunschkoalition des Jahres 2009 ist eine mut- und ziellose Truppe geblieben. CDU, CSU und FDP haben mit ihren Entscheidungen den Bundestagswahlkampf eingeläutet.
Ein Konzept sucht man bei den Ergebnissen der achtstündigen nächtlichen Verhandlungen vergeblich. Selbst der fürs Schönreden der CDU-Politik engagierte Generalsekretär Hermann Gröhe flüchtete sich in blumige Sätze: „Im Übrigen finde ich es auch schwierig, die Dinge jetzt einzeln der einen oder anderen Partei allein zurechnen zu wollen.“ Erfolge verkauft man anders. Jeder Koalitionär will nur noch retten, was zu retten ist. Am ehesten gelingt das noch der FDP.
Paradoxerweise will sie ihre Unersetzbarkeit mit einer Entscheidung belegen, die auch alle anderen Parteien einschließlich der Opposition herbeiführen wollten. Ausgerechnet die selbsterklärte Partei marktwirtschaftlicher Vernunft schafft zum Jahreswechsel die Praxisgebühr ab. Jedoch: Die rund 2 Milliarden Euro, die jährlich in der gesetzlichen Krankenversicherung fehlen werden, müssen früher oder später durch Erhöhungen der Kassenbeiträge wieder hereinkommen. Die FDP sorgt also damit für eine Steigerung der Lohnnebenkosten.
[…] Dieser Umstand offenbart die Misere der Freidemokraten: Die vorgeblichen Wirtschaftsexperten genieren sich für ihren Wirtschaftsminister und Nochparteichef.
[Matthias Lohre, taz, 05.11.12]

Wer bisher noch Zweifel hatte, ob die Koalition wirklich so schlecht ist wie ihr Ruf, der ist jetzt bekehrt worden: Sie ist noch schlechter. Die Spitzen von Union und FDP brauchen eine ganze Nacht, um zu entscheiden, was längst hätte entschieden sein müssen. Der Gipfel sollte Handlungsfähigkeit demonstrieren und zeigte doch nur eines: das Scheitern dieser Regierung. […]
Um es kurz zu machen: Das Betreuungsgeld soll jetzt tatsächlich, ganz wirklich und in echt kommen. Was für eine Überraschung! Es ist ja vorher schon dreimal von genau den Leuten beschlossen worden, die vergangene Nacht im Kanzleramt zusammensaßen. Im Tausch darf die FDP die Abschaffung der Praxisgebühr als ihren großen Sieg feiern. […]
Weiterer Kuhhandel: Weil die CSU so lange auf das Betreuungsgeld warten muss - statt zum 1. Januar 2013 wird es erst zum 1. August eingeführt -, darf sich ihr Verkehrsminister Peter Ramsauer noch 750 Millionen Euro für seinen Etat aus dem Steuersäckel holen. […]
Der Koalitionsgipfel sollte Handlungsfähigkeit demonstrieren. Das hat Schwarz-Gelb auch wahrlich nötig. Bewirkt aber hat der Gipfel das Gegenteil. Nach Monaten des Streits, der gegenseitigen Blockade, des Misstrauens, der Beschimpfungen und der Durchstechereien ist das, was der Gipfel hervorbrachte, ein Dokument des Scheiterns dieser Regierung.
[Thorsten Denkler, 05.11.12]
Adeodatus
Zitat:
Der Bürger wird finanziell entlastet,


Man merkt das die in der Regierung noch nicht einmal ihre eigenen Gesetze kennen, nur so kann man auf so eine (entschuldigung) bekloppte Aussage kommen. Der Bürger muss (nach wie vor) 2 % (chronisch Kranke 1 %) Zuzahlung leisten. Ob nun mit oder ohne Praxisgebühr eine Entlastung erfolgt nicht - aber gut wie sagte schon der olle Bismarck? Es wird niemals so viel gelogen wie vor der Wahl, während des Krieges und nach der Jagd. !
gastli
Die Titanic fasst noch einmal schön zusammen.

Neue Regierungsbeschlüsse gefaßt
Nach monatelangen Auseinandersetzungen hat sich das Kabinett bei zentralen Fragen geeinigt. Dabei konnten sich unterschiedliche Koalitionspartner durchsetzen, u.a. beim Betreuungsgeld (CSU) und bei der Praxisgebühr (FDP), bei der Abschaffung der Champagnersteuer (FDP) und den verkürzten Studienzeiten beim Jodeldiplom (CSU). Zugeständnisse machte die FDP beim bayerischen ZDF-Kontrollgesetz, im Gegenzug wird Horst Seehofer nur noch zweimal im Halbjahr mit Koalitionsbruch drohen. Schließlich versprach die FDP, die CSU nicht so oft zu hauen; dafür darf Rösler zwei Stunden am Tag das Fahrrad vom Ramsauer haben. Auf die Frage, ob man bei alldem nicht von einem Kuhhandel sprechen müsse, sagte Horst Seehofer: "Nein, das wurde alles zwischen FDP und CSU ausgedengelt. Die Kuh haben wir diesmal gar nicht erst gefragt!"
Digedag
Zitat:
SirBernd hat am 05. November 2012 um 15:58 Uhr folgendes geschrieben:
Ab 01.01.2013 soll die Praxisgebühr von 10 Euro pro Quartal entfallen. Darauf einigte sich die Regierungskoalition in ihrer letzten Sitzung. Die Entscheidung erntet viel Zustimmung.


Endlich mal ne gute Nachricht großes Grinsen
Meta
Was ist denn nun mit der Senkung der Krankenversicherungsbeiträge entsprechend der Rentenversicherungsbeiträge?
Das bischen Praxisgebühr 3,33 €/Mo. reichen dafür ja nicht aus, oder?
Ich finde insgesamt sollte man den Krankenversicherungsbeitrag durchschnittlich monatlich um ~13,33€ senken.
RudiRatlos
Tja @Meta, das ist ja gerade der Bauerntrick. 10€ Bares mehr in der Börse macht sich doch "optisch" besser als eine 0,1%ige Beitragssenkung. Das Ergebnis erkennt man auch hier in den Beiträgen. :-D
Bernhard P.
Dieser Schritt war längst überfällig.

Ich sah darin nie einen Sinn. Für viele Arztpraxen war es oft nur ein unnötiger Aufwand der am Ende kaum was einbrachte.
Meta
Wozu war dann der Aufwand da?
Wenn wollte man damit schikanieren?
gastli
[RP-online]
Ärzte wollen Ersatz für die Praxisgebühr
Der Bundestag hat am Freitag die Abschaffung der Praxisgebühr beschlossen. Die Ärzteschaft und der Rat der Wirtschaftsweisen plädieren nun für ein neues Steuerungsinstrument, um die Zahl der Arztbesuche zu senken.
...
"Wir kritisieren, dass durch die Abschaffung der Praxisgebühr kein Steuerungsinstrument mehr da ist, um die Zahl der Arztbesuche zu reduzieren", sagte der Chef des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Wolfgang Franz. Eine Lösung schlägt Ärztepräsident Frank Ulrich Montgomery vor: "Wir wünschen uns als Ärzteschaft ein Steuerungsinstrument über finanzielle Eigenbeteiligung, um überflüssige Arztbesuche zu vermeiden." Auf Dauer werde man um neue Steuerungsinstrumente nicht herumkommen.

* Na ist das nicht toll?
Das ging ja fix.
Meta
Schikanen zum senken der Arztbesuche?
Vorschlag:
Wer mehr als eine bestimmte Anzahl von Arztbesuchen im Quartal hat muß sie selbst bezahlen.
gastli
"Nach der Abschaffung der Praxisgebühr muss nun die Abschaffung der übrigen Zuzahlungen ins Visier genommen werden. Dafür ist genügend Geld vorhanden; das zeigen die aktuellen Zahlen über die Überschüsse bei den Gesetzlichen Krankenkassen. Die Rede ist nun von 3,7 Milliarden Euro, die von Januar bis September alleine bei den Kassen aufgelaufen sind. Da sind die Milliarden des Gesundheitsfonds noch gar nicht eingerechnet. Etwa 5,5 Milliarden zahlen die Versicherten derzeit Jahr für Jahr zu. Zur Kompensation der Mindereinnahmen durch die Abschaffung der Praxisgebühr werden die Kassen etwa 1,8 Milliarden Euro erhalten. Für die Abschaffung aller übrigen Zuzahlungen wären also genau 3,7 Milliarden Euro notwendig. Die Abschaffung aller Zuzahlungen wäre somit finanzierbar und wäre eine Politik im Sinne der Kranken und der Versicherten."

Habt ihr etwa jetzt beim Lesen zustimmend genickt?
Vorsicht!!!
Das ist schlimmster Linksextremismus!!!
So etwas wird in der Bundesrepublik Deutschland deshalb vom Verfassungsschutz beobachtet.
gastli
Besonders in Zeiten des schwarz/rot/goldenen Taumels steht die "Patientenbehandlung" im Mittelpunkt.

Zitat:
"Sparen auf Kosten der Patienten"Jetzt müssen Sie für 1800 neue Medikamente zuzahlen
Neue Belastung für Millionen gesetzlich Krankenversicherte in Deutschland: Ab heute müssen sie für weitere 1800 Arzneimittel bis zu zehn Euro zuzahlen. Die Pharmaindustrie wirft den Kassen einen Preiskampf "auf Kosten der Patienten" vor.

[Quelle: http://www.focus.de/finanzen/versicherun...id_3958461.html]

Und mal ehrlich. Wir wären doch nicht in der BRD, wenn es nicht zu Lasten der Patienten gehen würde.
Aber das reicht nicht. Zu Lasten derer die eh schon am schlechtesten dran sind. Die chronisch Kranken.
Aber hey, weit über 80% der Wähler finden das super und wählen die Parteien, die ihnen am meisten Schaden zufügen.
Bernhard P.
Zitat:
gastli hat am 01. Juli 2014 um 17:00 Uhr folgendes geschrieben:

Aber hey, weit über 80% der Wähler finden das super und wählen die Parteien, die ihnen am meisten Schaden zufügen.


Es stimmt nach wie vor: Nur die dümmsten Kälber wählen ihre Schlächter selber!
Meister
Zitat:
Meta hat am 11. November 2012 um 06:07 Uhr folgendes geschrieben:
Schikanen zum senken der Arztbesuche?
Vorschlag:
Wer mehr als eine bestimmte Anzahl von Arztbesuchen im Quartal hat muß sie selbst bezahlen.


Warum eine bestimmte Anzahl von Arztbesuchen selber bezahlen?

Fakt ist doch das bei einem Krankenhaus Aufenthalt bis 21 Tage, der Patent nach wie vor 10 Euro pro Tag bezahlen muss.
Da wird wohl die Bildzeitung als Unterhaltungslektüre mit einbegriffen sein. großes Grinsen

Meister